In die Tiefe

Malcolm Bidali: „Die WM ist dort, wo sie hingehört“

Malcolm Bidali arbeitete in Katar, wurde dort verhaftet und setzt sich heute für die Rechte von Arbeitsmigranten ein. Im Interview spricht er über die Lebensbedingungen im Emirat und das Versagen der FIFA.

Malcolm Bidali arbeitete in Katar, wurde dort verhaftet und setzt sich heute für die Rechte von Arbeitsmigrant*innen ein. Im Interview spricht er über die Lebensbedingungen im Emirat und das Versagen der FIFA.

Malcolm Bidali ist 2016 zum ersten Mal ins Emirat gekommen, um dort auch beim Bau des neuen U-Bahn-Systems zu arbeiten. Nachdem er auf einem Blog und in Social-Media-Kanälen über seinen Alltag berichtete, saß er 2021 vier Wochen in Isolationshaft und wurde angeklagt. Er gefährde mit Falschnachrichten das System. Erst nach internationalen Protesten konnte er nach Zahlung einer Geldstrafe von rund 6.000 Euro das Land verlassen. Im Herbst 2022 erzählte er seine Geschichte auf Einladung von Menschenrechts- und Bildungsorganisationen in Deutschland und Österreich. Zum Interview mit nullzueins Anfang Oktober in einem Wiener Lokal kommt Bidali im Sankt-Pauli-Pullover, den er bei der Hamburger Station der Tour geschenkt bekommen hat. Aber eigentlich interessiere ihn Fußball nicht mehr, sagt er. Früher habe er einmal für den FC Arsenal geschwärmt, heute sei ihm der Sport zu kommerziell.

nullzueins: Du bist seit zwei Wochen in Deutschland und Österreich unterwegs. Wie verläuft die Reise bisher?

Malcolm Bidali: Ich habe viel über die Fußballkultur in den Städten, in denen ich war, gelernt, und wie diese mit der Politik und sozialen Problemen verbunden ist. Und wir haben ein großes und interessiertes Publikum gehabt. Für die Leute war es etwas Besonderes, Menschen zu hören, die in Katar gearbeitet haben. Europäer können die ganze Geschichte gar nicht kennen. Ich möchte sie auf die Situation der Arbeitsmigranten in Katar aufmerksam machen.

Du hast in Katar für zwei Firmen gearbeitet. Waren die Bedingungen bei beiden schlecht?

Nein, die erste Firma hat besserer Arbeitsbedingungen gehabt. Wir haben einen Tag die Woche frei gehabt, gute Arbeitszeiten, ein Fahrzeug, das uns zum Einkaufen gebracht hat, und viel bessere Unterkünfte. Ich glaube, ich habe sogar ein paar Kilo zugenommen. Die zweite Firma war schrecklich. Furchtbare Arbeitszeiten, Unterkunft, Essen.

Als ich an einem Tag zurück von der Arbeit gekommen bin, habe ich ein paar meiner Sachen beschädigt wiedergefunden.

Malcolm Bidali

Was war der Auslöser für deine Entscheidung, öffentlich über die Lebensbedingungen in Katar zu sprechen?

Dafür muss ich kurz etwas ausholen. Wenn eine Firma Sicherheitskräfte wie mich einstellen will, prüft sie, ob die Arbeits- und Wohnbedingungen mit ihren Firmen-Vorschriften vereinbar sind. Bei den Unterkünften geht es da zum Beispiel um die Anzahl der Menschen, die in einem Raum schlafen, die Ausstattungen der Badezimmer oder auch Freizeiteinrichtungen. Die Firma, für die ich gearbeitet habe, ist eine Tochtergesellschaft der Qatar Foundation, also einer Stiftung der Regierung. Sie führen Inspektionen durch, wenn wir bei der Arbeit sind. Um die Zimmer besser aussehen zu lassen, gehen die Verantwortlichen aus den Arbeitercamps auch an deine persönlichen Sachen. Es sind kleine Räume mit Stockbetten und vielen Menschen, da herrscht Chaos. Es kann also eigentlich nicht sein, dass die Räume den Standards entsprechen. Die Mitarbeiter der Camps wissen aber, dass nicht gründlich inspiziert wird. Sie räumen alles auf, damit es auf den ersten Blick gut aussieht. Als ich an einem Tag zurück von der Arbeit gekommen bin, habe ich ein paar meiner Sachen beschädigt wiedergefunden. Das ist, was alles ausgelöst hat.

Wie hast du dich da gefühlt?

Ich konnte nicht fassen, wie man so etwas tun kann. Ich hatte für diese Sachen viel Geld gezahlt und hart gearbeitet. Ich habe die Campmitarbeiter auch damit konfrontiert. Sie sagten nur, dass ich zurück in mein Zimmer gehen soll. Dann habe ich einen anonymen Account eingerichtet und den verantwortlichen Firmen geschrieben. Sie haben aber nicht geantwortet. Nur die Qatar Foundation hat sich gemeldet, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Dann bin ich mit einer NGO in Kontakt gekommen. Für migrantrights.org habe ich einen Artikel über unsere Situation geschrieben. Der ist viral gegangen und auch beim Management der Qatar Foundation angekommen. Dadurch waren sie gezwungen, ein paar Veränderungen umzusetzen.

Hattest du Angst davor, dass du auffliegst und bestraft wirst, als du den Artikel veröffentlicht hast?

Nein, gar nicht. Ich dachte nur daran, dass ich unsere Geschichte erzählen muss. Ich wollte, dass über unsere Situation gesprochen wird.

Hast du von den schlechten Arbeitsbedingungen gewusst, bevor du nach Katar gegangen bist?

Nein. Ich habe keine Ahnung gehabt, was mich erwarten würde. Ich habe nur gewusst, dass Katar reich ist, und mir deswegen gedacht, dass es ein guter Ort sei, um dort zu arbeiten. Bei meinem ersten Job hat sich das auch bewahrheitet. Ich habe Glück gehabt. Wie schlecht es anderen Gastarbeitern gegangen ist, habe ich gar nicht mitbekommen. Als ich das zweite Mal dort war, habe ich erwartet, dass es wieder so werden würde. Ich war schockiert, als es anders gekommen ist.

Malcolm Bidali an seinem Arbeitsplatz in Katar

Warum bist du zum Arbeiten aus Kenia nach Katar gegangen?

Im Vergleich sind die Arbeitsbedingungen in Katar viel besser. Katar hat einen Mindestlohn, Kenia nicht. Es gibt höhere Sicherheitsvorschriften: Helme, Schutzbrillen, Schuhe, Handschuhe, auch Sicherheitsbeauftragte. In Kenia haben wir das nicht. Die Menschen kommen in Sneakers auf Baustellen. In Katar verdient man mehr, bekommt Verpflegung und oft eine bezahlte Unterkunft.

Alle wollen auf den Baustellen der WM arbeiten.

Malcolm Bidali

Gibt es da einen Unterschied zwischen WM-Baustellen und anderen Baustellen?

Auf den Baustellen der WM-Stadien herrschen dank des internationalen Drucks bessere Arbeitsbedingungen. Das ist unfair, der Anteil dieser Baustellenarbeiter ist unter allen Gastarbeitern doch minimal. Wer nicht dort arbeitet, hat kein Anrecht auf Menschenrechte, oder was? Alle wollen auf den WM-Baustellen arbeiten. Ein Freund von mir ist auf eine Stadionbaustelle versetzt worden. Er hat sofort eine Gehaltserhöhung und eine bessere Unterkunft bekommen.

Die Unterkünfte der Arbeiter liegen weit außerhalb der Städte. Hast du die Möglichkeit gehabt, nach Doha zu fahren?

Ja. Ich habe meine Freizeit oft zum Einkaufen genutzt. Am Ende des Monats bin ich manchmal zu KFC gefahren. Eine Belohnung, die ich mir in Kenia nicht leisten konnte. Ich bin auch mit dem Bus nach Doha gefahren, um einfach herumzuspazieren, mir das Meer und die Gebäude anzuschauen, in den Park oder ein Museum zu gehen. Manchmal bin ich einfach einen Kaffee trinken gegangen und habe gelesen. Meistens war ich dabei alleine, erst gegen Ende habe ich Freunde gefunden.

Hattest du auch Kontakt zu Katarern?

Das möchte ich lieber nicht beantworten.

Hat es Einheimische gegeben, die dir helfen wollten?

Ich beantworte das diplomatisch: Ich weiß von katarischen Bürgern, die an sozialen Debatten teilnehmen wollen. Sie haben das schon getan, lange bevor ich einen Fuß nach Katar gesetzt habe. Es ist nicht so, dass die Menschen keine Stimme hätten. Sie haben eine und setzen diese ein. Ein Beispiel: Als ich verhaftet worden bin, haben Studierende einen Brief geschrieben, in dem sie sich für meine Freilassung eingesetzt haben. Das war sehr riskant für sie. Es gibt Katarer, die sich nicht nur für die Rechte von Gastarbeitern, sondern auch für die Rechte von Frauen und der queeren Community einsetzen.

Ich kann nicht davon abraten nach Katar zu gehen, weil die Menschen oft keine Wahl haben.

Malcolm Bidali

Du hast mit einer Kollegin, die als Hausangestellte in Bahrain gearbeitet hat, die NGO Migrant Defenders gegründet. Welche Ziele verfolgt ihr mit der Organisation?

Wir haben als Migranten das Recht, an der Diskussion um Arbeitsrechte teilzunehmen. Und es ist unsere Pflicht als Menschen, die es herausgeschafft haben, für die einzutreten, die in anderen Ländern arbeiten oder das vorhaben. Wir wollen unsere Geschichte teilen und helfen, indem wir Informationen zu Arbeitsrechten und zuständigen Behörden anbieten. Wir stehen aber noch ganz am Anfang, weil wir noch finanzielle Mittel für unser Projekt brauchen.

Würdest du mit deinen Erfahrungen Menschen aus Kenia empfehlen, in Katar zu arbeiten?

Ich würde niemandem davon abraten. Ich würde sagen: „Wenn ihr wirklich auswandern wollt, dann wendet euch an eine seriöse Agentur.“ Manche Agenturen betrügen die Arbeiter. Sie kassieren die Vermittlungsgebühr ein und melden sich dann nicht mehr. Wenn ihr also auswandern wollt, sucht euch eine Agentur, die euch in diese Länder vermitteln kann. Ich kann nicht davon abraten, weil die Menschen oft keine Wahl haben. Vielleicht müssen sie Schulden begleichen, vielleicht müssen sie die Familie versorgen.

Was können Europäer tun, um die Situation vor Ort zu verbessern?

Wir brauchen eine langfristige Herangehensweise. Man kann so viel schreiben, wie man will, an die Presse gehen, Kampagnen starten – am Ende spielt die Politik eine sehr große Rolle. Die politischen Entscheidungsträger haben die Macht, dauerhafte Veränderungen zu bewirken. Es wäre wichtig, wenn die Europäische Union Druck auf die Verantwortlichen in Katar ausüben würde. Das würde langfristig helfen.

In Europa sind immer wieder Stimmen zu den Menschenrechtsverletzungen in Katar laut geworden. Hast du davon etwas mitbekommen?

Ja, am meisten aus Norwegen. Dort hat es eine starke Kampagne zum Boykott der WM gegeben. Sie haben versucht, die Debatte in Gang zu halten. Tromsö IL hat ein Trikot mit einem QR-Code produziert, über den man Informationen über die WM und die Ausbeutung in Katar erhalten hat. Von den Regierungen allerdings ist meiner Meinung nach zu wenig gekommen.

Die FIFA hat die Gastarbeiter im Stich gelassen.

Malcolm Bidali

Hat die FIFA genug getan?

Die FIFA hat in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass sie die Menschenrechtssituation in den Veranstalterländern nicht interessiert. Vor meiner Zeit in Katar habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, was die FIFA tut. Erst als ich mich mit dem Verband auseinandergesetzt habe, habe ich gemerkt, dass die FIFA eine, entschuldigen Sie die Wortwahl, beschissene Institution ist. Ich weiß nicht, für wen sie kämpfen, wofür sie stehen, woran sie glauben. Sie haben die Gastarbeiter in Katar im Stich gelassen.

Hätte die FIFA die WM gar nicht erst an Katar vergeben sollen?

Nein. Katar hat jedes Recht, die Weltmeisterschaft auszurichten. Man muss zwischen dem katarischen Volk und der katarischen Regierung unterscheiden. Ich habe mit Katarern zu tun gehabt, die meisten von ihnen sind sehr anständig. Meiner Meinung nach verdienen die Bürger das Recht, dieses Ereignis zu genießen. Es ist die Weltmeisterschaft, das ist groß, gewaltig. Die Leute sagen, Katar habe keine Fußballkultur. Was meinen Sie mit „Fußballkultur“? Niemand hat von Anfang an eine Fußballkultur gehabt.

Der Sport wird aber von der katarischen Regierung genutzt, um Sportswashing zu betreiben.

Das stimmt. Aber die Menschen, die die Spiele sehen, die Menschen, die tagtäglich damit zu tun haben, spielen Fußball, weil es Fußball ist, nicht weil es politisch ist. Die Weltmeisterschaft ist da, wo sie sein sollte. Ich bin natürlich voreingenommen, weil ich katarische Freunde habe. Aber Katar hat genauso ein Recht wie jedes andere Land, die Weltmeisterschaft auszurichten. Kein Land ist perfekt, Brasilien, Russland, niemand. Auch die USA nicht, wo die WM 2026 stattfinden wird. Und die Vergabe hatte auch eine gute Seite. Durch die Weltmeisterschaft haben die Menschen von der Ausbeutung und der Menschenrechtssituation erfahren. Ohne die WM wären die Dinge ganz anders gelaufen.

Dieser Text ist Teil unseres Katar-Specials, in dem wir Menschen vorstellen, die sich für einen neuen Fußball einsetzen. Mehr Infos dazu gibt es hier. Dieses Interview ist in leicht abgewandelter Version auch in der neuen Ausgabe des ballesterer Fußballmagazin erschienen.

Bildcredits: Südwind, Malcolm Bidali

2 Kommentare zu “Malcolm Bidali: „Die WM ist dort, wo sie hingehört“

  1. Pingback: Katar-Special: Wie wir mit der WM umgehen – nullzueins

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