In die Tiefe

Marcus Urban im Interview: „Wir brauchen eine Welcoming-Kultur“

Ex-Fußballer und Diversity-Coach Marcus Urban erzählt im Interview, warum er andere Spieler als "schwule Sau" beschimpft hat, wie ein Outing heute die Karriere ankurbeln könnte und was das Projekt "GayPlayersUNITE" ist.

Marcus Urban galt als einer der talentiertesten Spieler seines Jahrgangs. Kurz vor dem Sprung in den Profibereich beendete er 1994 aber überraschend seine Karriere. Der Druck, seine Homosexualität weiter verstecken zu müssen, wurde zu groß. Als Diversity-Coach arbeitete Urban seit 2007 unter anderem für den DFB, referierte im Sportausschuss des deutschen Bundestags oder bei Profiklubs und schrieb das Buch „Versteckspieler“. Im Interview erzählt er, warum er andere Spieler als „schwule Sau“ beschimpft hat, wie ein Outing heute die Karriere ankurbeln könnte und was das Projekt „GayPlayersUNITE“ ist. 


Herr Urban, was hat ihr „Versteckspiel“ mit Ihnen als Person gemacht?
Es hat unheimlich an meinen Kräften gezerrt. Die Energie, die ich reinstecken musste, um mich zu verstellen, zu verstecken. Zu überlegen, was ich wem sage und auch die Kraft, die ich gebraucht habe, um mit der Depression klarzukommen, in der ich schon längst war. Diese Energie hatte ich nicht. In diesem Zustand bin ich Nationalspieler geworden und habe mir die Chance erarbeitet, in die Bundesliga zu kommen. Das habe ich mit höchstens 50 Prozent gemacht. Man stelle sich vor, ich hätte 100 Prozent zur Verfügung gehabt. 


Aber die Angst vor einem Outing war trotzdem zu groß?
Ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, mich zu outen. Immer wenn das Thema in irgendeiner Form aufgetreten ist, habe ich gemerkt, dass ich einfach Angst hatte. Ich bin rot geworden, habe mich geschämt und sofort kompensiert. Ich habe auf hart gemacht, auf Macho, habe Witze darüber gemacht. Innerlich hat es immer sehr sehr geschmerzt, da hat es nur wehgetan. Ich habe gemerkt, dass ich einen Kampf ausfechte. Mit mir selbst, mit der Gruppe, mit der Gesellschaft. Dass ich nicht der sein kann, der ich bin.


Sie haben in einem Interview mal gesagt: „Mein Gedanke war immer: Ich bin Fußballer. Ich kann nicht schwul sein.“ Woher kommt so ein Gedanke?
Durch das, was mit dem Fußballer verbunden wird: dynamisch, heldenhaft, siegesgewiss. Dazu gehörte auch, dass man auf Frauen steht. Da ging es um Statussymbole, die damit verknüpft waren und auch noch sind. Und Homosexualität gehörte eben nicht dazu, weil damit Schwäche verbunden wurde. Und das, was in den Medien oder im Fernsehen immer gezeigt wurde, das waren dann oft tuntige, ausgeflippte, feminine Männer. Das passte eben nicht zum Fußball-Image. 

Es wird vermittelt, dass ein Mann hart oder unschlagbar ist. (…) Alles andere ist weibisch. Und bei weibisch ist Homosexualität nicht weit.

Marcus Urban


Hat das vielleicht auch mit den Narrativen im Fußball zu tun, wie „Männerfußball“ oder „Wir brauchen echte Kerle“?

„Das ist kein Weiberfußball“, „sei mannhaft“. Das sind so Sprüche, die kommen. Es wird vermittelt, dass ein Mann hart oder unschlagbar ist. Dass man anderen wehtun kann und Schmerzen erträgt. Alles andere ist weibisch. Und bei weibisch ist Homosexualität nicht weit. Jedenfalls wird es so verknüpft, dass Schwule zu weich und soft sind. Das Gegenteil des Mannes.


Wie sind Sie damit früher umgegangen?
Das war schon ein Problem, weil es meinem Wesen eigentlich völlig widerstrebt. Ich hab eine sehr feinstoffliche, sensible Seite. Diese Härte, auch kommunikative Härte, diese emotionale Schroffheit im Fußball, die behagt mir gar nicht. Es gab dann auch kein Mental-Training und wenig Schutz. Etwa in Form eines Diskriminierungsschutzes. Das hat mir extrem zugesetzt. 


Wie ist es, wenn man seine Homosexualität vor Mannschaft, Fans und Trainer verheimlichen muss? Wenn man verstecken muss, wer man ist?

Man ist quasi im Daueralarm-Modus, im Kampfmodus. Dieser Daueralarm-Modus, der führt am Ende zu einer Depression. Man fühlt sich unter dauerhafter Beobachtung, ist fast paranoid. Hat jemand über mich getuschelt? Hat er jetzt was über mich gesagt? Hat die über mich geredet? Hat man jetzt irgendwas an mir entdeckt? Ich fing irgendwann an, Panik und Angst-Attacken zu entwickeln, im Unterricht habe ich gestammelt, konnte nicht mehr richtig lesen. Woher das kam, habe ich selbst nicht mehr verstanden. Und mir hat auch keiner geholfen. Dann ist man wirklich einsam und alleine. Man fühlt sich im Stich gelassen.

Mein Outing hat mir im Nachhinein unglaublich viel Respekt eingebracht.

Marcus Urban


Wie waren die Reaktionen Ihrer Kollegen damals, als Sie sich dann 1994 geoutet haben?

Dann war alles fein. Dann habe ich Respekt und viel Lob bekommen. Es wird als mutig angesehen, als Fußballer zu sagen: „Ich bin schwul“. Einfach so. Die Kollegen haben es total gefeiert. Sie haben gesagt: Hauptsache du lebst dein Leben, bist du selbst. Es hat mir auch im Nachhinein unglaublich viel Respekt eingebracht.


Gab es da gar keine negativen Reaktionen?
Nicht mir gegenüber. Was hintenrum gesagt wurde, weiß ich nicht. Aber ich habe es als durchgängig positiv wahrgenommen. Ich hatte dann aber auch genug Selbstbewusstsein. Wenn jemand ein Problem mit meiner Sexualität gehabt hätte, hätte ich ihn links liegen lassen.


Wie hätten Ihre Kollegen wohl damals reagiert, wenn sie sich noch während der Karriere geoutet hätten?
Ich glaube anders. Dieser Konkurrenz-Druck, dieser Wettbewerb unter den Spielern. Der macht aus den Spielern Persönlichkeiten, die unter Druck anders reagieren und unangenehmer sind, als wenn sie sich einfach so treffen, im Privaten. Und dann wird beim anderen schon nach Schwächen gesucht. Das kann wirklich alles sein: Eine chronische Krankheit, ein vermeintlich hässliches Aussehen, Ärger in der Familie, eine „falsche“ Herkunft – oder eben die Sexualität. Das bietet Angriffsfläche für Mobbing oder Diskriminierung. Schwache Persönlichkeiten nutzen das aus. In meinem Fall wäre wahrscheinlich meine Homosexualität von dem ein oder anderen ausgenutzt worden. Als ich dann außer Konkurrenz war, war das auch kein Mobbing-Thema mehr. Dann ist es egal, weil der Wettbewerbsdruck entfällt. 


Glauben Sie, es hätte sich auch auf dem Platz etwas für Sie geändert? Dass man Sie zum Beispiel weniger ernst genommen hätte?
Das eher nicht. Aber das kann in heiklen Situationen auf dem Spielfeld eventuell zu einem Mobbinggrund werden. Es kriegt ja keiner mit, was auf dem Spielfeld gesagt wird. Da wäre garantiert „Schwuchtel“, „Schwuli“ oder Ähnliches gefallen. Ich habe in den vergangenen Jahren im Freizeitbereich bei Hertha BSC Homophobie-Vorfälle gehabt. Aber es gibt auch andere Arten von Diskriminierung. Man hat mich auch schon „asozialer Ostdeutscher“ genannt. 


Wie wäre es heute?
Ich glaub schon, dass es heute genauso auftreten kann, wie damals. Nur, dass es heute viel schwieriger ist, weil die Öffentlichkeit draufschaut, Homophobie-Vorfälle rauskommen und über die sozialen Medien verbreitet werden. Es ist nicht mehr so einfach zu diskriminieren wie früher. Aber passieren könnte das auch heute. Nur, dass es heute andere Bedingungen gibt. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Deutschland, die EU-Richtlinien, die ganz andere Schutzmöglichkeiten bieten, als es früher der Fall war.

Ich habe meine Gegenspieler selbst mit Schwuchtel oder schwule Sau beschimpft.

Marcus Urban


Wie sind Sie mit Anfeindungen umgegangen?
Früher habe ich das einfach geschluckt oder zum Gegenschlag angesetzt. Ich selber habe auch diskriminiert und gemobbt. Ich bin ja nicht nur Opfer, sondern auch Täter gewesen. Man wehrt sich halt. Das war eigentlich gang und gäbe. Auf dem Platz wird das eine oder andere gesagt, das nicht so nett ist. Das kann dann auch rassistisch oder homophob sein. Ich habe meine Gegenspieler auch selbst mit „Schwuchtel“ oder „schwule Sau“ beschimpft. 


Wie passt das zusammen?
Das war kompensatorisch. Ich wollte nicht schwach sein, also war ich besonders hart, besonders aggressiv, um das Ganze zu verbergen. Ich hatte ja etwas zu verbergen. Andere brauchten nicht über die Stränge zu schlagen. Ich aber schon, dadurch habe ich es kompensiert. Und weil ich selbst erfahren habe, wie verletzend das ist, wusste ich ja auch, wo ich andere treffen kann. Ich zeige auch überhaupt nicht mit dem Finger auf andere, weil ich auch kein Kind von Traurigkeit war. Ja, ich habe total gelitten. Und ich hatte auch eine echt krasse Kindheit und Jugend, definitiv. Da ging’s wirklich um’s Überleben. Nur als Stichworte: Gewalt in der Familie, Missbrauch, Doping ohne mein Wissen. Stasi, die Staatssicherheit, die Akten von mir angelegt hat. Das Sich-Verstecken-Müssen als Spieler ist schon schlimm genug. Das durchzuhalten hat Depressionen verursacht, zusammen mit den anderen Themen.


Werden Sie heute noch homophob angegangen?
Vor vier bis fünf Jahren im Spitzenspiel mit meinem Team Hertha BSC gegen Blau-Weiß Berlin hat mich jemand mit „Schwuchtel“ und „Schwuli“ beschimpft. Meine Kollegen haben sich dann vor mich gestellt und sind den angegangen. Es gab tumultartige Szenen, mein ganzes Team war stocksauer. Sogar saurer als ich selbst. Sie haben gesagt: Das lassen wir uns nicht gefallen. Der Fall kam vors Sportgericht. Aber derjenige, der mich beleidigt hatte, war sehr reumütig, hat sogar mein Buch gelesen, er wollte sich mit dem Thema auseinandersetzen. Wir haben uns am Ende die Hand gereicht. Positiv war vor allem, dass die Hertha das Thema damals sehr ernst genommen hat und beispielsweise einen Rechtsanwalt gestellt hat. Es war genau richtig. Ich selbst habe es aber eigentlich sehr leicht genommen.


Warum hat sich bisher kein aktiver Spieler geoutet?
Es ist vor allem die Angst. Die Angst, einen Spießrutenlauf machen zu müssen, von der Öffentlichkeit oder den eigenen Spielern gemobbt zu werden. Außerdem raten die Berater oder das Umfeld den Spielern ab, weil es schlecht fürs Image wäre. Bei Thomas Hitzlsperger war das wohl der Fall. Er beschreibt es ja ganz anders als ich. Für ihn sei es gar nicht so schlimm gewesen, es hätte ihm keine Probleme bereitet und er hätte es nicht als Verstecken-Müssen empfunden. Er hat sich, glaube ich, wegen seines Images nicht während der Karriere geoutet. Thomas hat auch nicht in einer Diktatur Fußball gespielt und hatte vermutlich eine Familie, die hinter ihm gestanden ist. Meine Geschichte unterscheidet sich da völlig. Für mich war dieses Versteckspiel noch on top. 

Die Sponsoren warten alle auf eine Persönlichkeit mit Alleinstellungsmerkmal.

Marcus Urban


Glauben Sie, dass heute ein offen schwuler Spieler Probleme hätte, Karriere zu machen?
Ich glaube, dass es heute nicht mehr so schlimm ist. Vor zehn bis 20 Jahren hätte ich das noch so gesagt. Aber mittlerweile verändert sich das für mich. Die Öffentlichkeit lobt, respektiert und feiert Menschen, die authentisch sagen, wer sie sind. Sie werden als mutig gesehen, so habe ich das nach meinem Comingout ja auch erlebt. Und die Sponsoren warten alle auf so eine Persönlichkeit mit einem Alleinstellungsmerkmal. Ich könnte mir also vorstellen, dass es jetzt kein Problem mehr ist, sondern, im Gegenteil, Respekt einbringen könnte.


Also kurbelt es die Karriere vielleicht sogar an?
Das könnte ich mir vorstellen. Andy Brennan hat in Australien ganz viel Respekt bekommen, nachdem er sich geoutet hat. Robbie Rogers von LA Galaxy hatte nach seinem Comingout eigentlich mit dem Fußball aufgehört. Er wurde dann aber von seinem Team in Los Angeles überredet, doch weiterzumachen. Man hat schon fast darauf gedrängt, dass er weitermacht. Das sind Anzeichen dafür, dass sich das Ganze umgekehrt hat, in Respekt und in die Einladung, zu sich zu stehen und weiterzumachen. Das wird geschätzt.


Würden Sie es einem schwulen Spieler heute empfehlen, sich während der Karriere zu outen?
Ich würde auf jeden Fall nicht abraten. Als Coach muss ich erst einmal darauf achten, was der- oder diejenige will. Aber als Mensch würde ich klipp und klar sagen: Sei, wer du bist. Lass dich doch nicht von anderen dazu bewegen, eine Rolle zu spielen. Wer sind die? Wer soll mir sagen, wer ich bin oder wie ich mich zu verhalten habe oder was ich zu sagen habe und was nicht. Hallo? Ich würde sagen: Junge, ich habe so viel Respekt bekommen. Es hat sich so gelohnt, zu mir zu stehen, zu zeigen, wie ich bin. Es hat mein Leben so viel besser und glücklicher gemacht. Ob als Fußballer oder nicht.


Glauben Sie, dass viele schwule Spieler schon vor der Profikarriere scheitern, weil der Druck nochmal größer ist?
Das könnte sein. Wenn sie ihre Kraft dazu verwenden müssen, sich zu verstellen, haben sie schon mal einen riesen Minuspunkt. Karriere zu machen, unter die besten Elf zu kommen in der Bundesliga, das ist schon hart. Die, die durchkommen, müssen echt stark sein.


In der Gesellschaft liegt die Quote an Homosexuellen wohl bei fünf bis zehn Prozent. Wie hoch ist sie aktuell in den Profiligen?
Sie könnte auch bei nur zwei Prozent liegen, wenn schwule Spieler vorher schon aussortiert werden. Wir wissen es nicht.

Ich kenne ein paar Namen. (…) Darunter sind echte Weltstars.

Marcus Urban


Wissen Sie aktuell von schwulen Spielern aus den Profiligen?
Ja, natürlich, ich kenne ich ein paar Namen. Bei dem einem oder anderen habe ich das durch meine Arbeit mitbekommen. Darunter sind echte Weltstars. Aber ich habe der Öffentlichkeit nie einen Namen genannt. Das ist ja nicht meine Angelegenheit. Obwohl es wirklich schade ist, dass sich niemand öffnen kann. Denn dann gäbe es vielleicht nicht nur Spielerfrauen, sondern auch Spielermänner. Oder die Fußballer würden ihre Ehemänner zur Weihnachtsfeier mitbringen. Das wäre echt und authentisch. Das würde das komplette Bild des Fußballs verändern.


Sind Sie mit den Spielern, die Sie kennen, in Kontakt?
Im Profibereich nicht. Man weiß voneinander, es wäre aber auch ein bisschen auffällig, Kontakt aufzunehmen.


2012 hat ein angeblich schwuler Bundesligaspieler im Interview mit dem Magazin Fluter gesagt, in seiner Mannschaft müsste eigentlich jeder Bescheid wissen, ein paar würden ihn auch dazu befragen. Ist das so? Wissen die Mitspieler alle Bescheid?
Man ist ja jeden Tag zusammen. Da wäre es komisch, wenn niemand etwas mitkriegen würde. Auch bei mir hat man es mitgekriegt. Obwohl ich Scheinfreundinnen hatte, hat man gemerkt, dass ich irgendwie anders bin. Dazu kamen auch immer Fragen und Kommentare. Das ist glaube ich in allen Teams so. Den Journalisten, der das Interview geführt hat, den kenne ich übrigens.


Adrian Bechthold? Hatten Sie mit ihm zu tun?
Ja, ich habe ihn damals gecoacht. Er war ein junger, angehender Journalist aus Baden-Württemberg, ein feiner Kerl. Er ist das Ganze locker angegangen, so hat er den Spieler kennengelernt. Und er hat auch den Namen geheim gehalten. Bis heute. Dafür ist er von der Presse zerrissen worden. Er hat mich jeden Abend angerufen, weil er so darunter gelitten hat. Er war dann auch in ärztlicher Behandlung und wollte doch nicht mehr Journalist werden.


Was ist in den Medien passiert?
Die Echtheit des Interviews wurde angezweifelt, er wurde angezweifelt. Es gab Hatespeech, Cybermobbing, Hacker-Angriffe auf sein Smartphone, Bestechungsversuche. Das hat ihm richtig zugesetzt.


Wann werden wir das erste Comingout in den deutschen Profiligen erleben?
Das ist die Lieblingsfrage, die immer gestellt wird. Das Comingout von Thomas Hitzlsperger kam wie aus dem Nichts. Daran sieht man: Es kann morgen passieren – oder heute. Ich glaube, dass die Entwicklung viel schneller geht, als wir uns das vorstellen. Auch weil Diversity-Themen für die neuen Generationen viel wichtiger sind. Es kann heute jederzeit passieren.


Bisher haben wir es aber noch nicht erlebt. Was muss passieren, damit sich jemand öffnet?
Es braucht eine Art „Welcoming-Kultur“. Wie DFB-Präsident Fritz Keller kürzlich in der ARD gesagt hat, müssen wir es rausschreien. Beim Thema Rassismus wissen wir, welche Spieler betroffen sein können oder sind. Bei der Sexualität ist das nicht so. Wir müssen die Spieler dazu einladen, selbstbewusst zu sein. Da würde mir das eine oder andere einfallen, das man machen könnte.


Was denn zum Beispiel?
Wir sollten das Thema Diversity verpflichtend in die Ausbildung der Trainer*innen und Schiedsrichter*innen einbauen. Oder ins Nachwuchsleistungszentrum, die Teil der Persönlichkeitsentwicklung von jungen Spieler*innen sind. Außerdem Diversity-Management in den Vereinen. Dafür braucht es gar nicht so viel. Und auf Websites könnte zum Beispiel gegendert werden.


Wie sieht es bei den Fans aus?
Die Fankultur macht ja schon eine ganze Menge. Die letzten Jahre sind lauter schwul-lesbische Fanklubs entstanden. Nicht nur für Bundesliga-Teams, sondern überall in ganz Deutschland und Europa.


Glauben Sie der DFB macht genug gegen Homophobie?
Genug wäre es erst, wenn wir offen schwule Spieler hätten. Wenn das selbstverständlich ist, wenn es zur Normalität gehört. Der DFB hat sich in den letzten Jahren mehr mit dem Thema beschäftigt, aber es reicht natürlich nicht aus.

Mit dem Abgang von Theo Zwanziger verschwand das Thema beim DFB.

Marcus Urban


Sie haben selbst beim DFB gearbeitet. Wie wurde da mit dem Thema Homophobie umgegangen?
Zu der Zeit war Theo Zwanziger DFB-Präsident. Er war sehr fortschrittlich, hat uns wertgeschätzt. Und er meinte, dass er viel von mir gelernt hätte. Mit dem Abgang Zwanzigers verschwand das Thema. Ein Journalist hat dann mal in einem Artikel geschrieben, ich sei Diversity-Berater des DFB. Das habe ich aber überhaupt nicht gesagt. Man hat mir das so übel genommen, dass man mich rausgekickt hat. Ich war also plötzlich Persona non grata, ohne dass ich wirklich etwas Schlimmes gemacht habe. Da habe ich auch gemerkt, dass man das nicht verzeihen wollte, dass man nicht bereit war, darüber zu reden. Da war ich sehr sehr enttäuscht. Dann war für mich klar, dass der DFB für mich kein Kunde mehr ist.


Wäre der DFB heute noch ein Ansprechpartner für Sie?
Es sind neue Leute da, es hat sich einiges verändert. Ich bin bereit, jeder Organisation und auch Menschen eine neue Chance zu geben.


Wie kann man die Medien auf ein Comingout vorbereiten? Die große Angst der Betroffenen scheint ja vor allem die mediale Aufmerksamkeit zu sein.
Wir bereiten die Medien jetzt schon seit 12 oder 13 Jahren darauf vor, seit ich in der Öffentlichkeit bin. Auch die Medien haben sich weiterentwickelt. Ich glaube aber nicht, dass man die Medien vorbereiten muss. Sie werden so reagieren, wie sie meinen, reagieren zu müssen. Ich glaube eher, dass man sich selber darauf einstellen sollte. Dafür habe ich mich den letzten Jahren mit Cybermobbing oder Hatespeech beschäftigt. Wie man damit umgehen kann, wie man sich schützen kann.


Aktuell unterstützen Sie das Projekt „GayPlayersUNITE“. Was ist das?
„GayPlayersUNITE“ ist erst einmal ein zivilgesellschaftliches Engagement. Es ist die erste Interessenvertretung und offizielle anonyme Anlaufstelle. Bei uns geht es nicht nur darum, schwulen Spielern ein Ventil zu bieten, um sich, wenn sie das wollen, so zu zeigen, wie sie wirklich sind. Sondern auch darum, Jugendlichen zu helfen, besser mit der Sexualität klarzukommen. Homosexuelle Jugendliche haben ein drei bis viermal so hohes Suizid-Risiko.


Wie genau bieten Sie schwulen Spielern ein Ventil?
Man könnte zum Beispiel anonym twittern. Allein das Schreiben und Reden hilft schon. Die Spieler können sich auch direkt anonym melden, per Telefon und per E-Mail.


Wie kam es dazu, dass Sie das Projekt unterstützen?
Valentin Blomer, der Leiter des Projektes, hat mich angeschrieben. Er hatte mit einem vermeintlich schwulen Bundesligaspieler Kontakt, hat den Namen aber geheim gehalten. Ich weiß bis heute nicht, wer es ist. Mich hat das erstmal irritiert und sehr skeptisch gemacht. Wir haben etwa ein Jahr miteinander gemailt und telefoniert. Im Verlauf der Gespräche habe ich gemerkt, dass ein zivilgesellschaftliches Engagement dahintersteckt. Dass die Fußballer Vorbilder für die Jugendlichen sein sollen. Das Thema ist Valentin unglaublich wichtig, das finde ich gut.


Wie waren die ersten Reaktionen auf das Projekt?
Es gab erstmal viele Fragen: Worum geht’s dabei eigentlich? Warum gebe ich meinen guten Namen dafür her? Wer ist denn nun der Bundesligaspieler? Ist das überhaupt wichtig, das zu beantworten? Für mich ist das jetzt nicht mehr so wichtig. Für mich steht die professionelle Arbeit im Vordergrund. 


Auf Twitter wurde Ihnen oft Fake vorgeworfen.
Ja, das ist nicht schön, aber das passiert. Es gibt Leute, die das denken wollen. Das dürfen sie ja auch. Wir schauen jetzt eher, dass wir mit dem Projekt vorankommen, anstatt weiter zu beweisen, dass es echt ist.


Obwohl Sie selber nicht genau wissen, ob es den Spieler gibt…
Genau, ich selbst habe da auch nicht mehr Information als die Öffentlichkeit. Natürlich ist das irritierend. Man könnte denken, es sei ein Fake, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das kann ich nachvollziehen. Und ich verstehe natürlich auch die Neugier. Dass man wissen will, wer es ist. Ich habe aber über die Jahre schon viele Spieler erlebt, die sich anonym gemeldet haben. Da habe ich mich daran gewöhnt, dass es nicht einfach so gesagt wird. Ich bin an der Stelle eingestiegen, als es darum ging, eine Interessensvertretung und anonyme Anlaufstelle einzusetzen. Das finde ich sinnvoll. Ob es den Bundesligaspieler wirklich gibt, ist eine andere Geschichte.

Ich rechne nicht mit einer schnellen Lösung des Problems.

Marcus Urban


Hat sich schon jemand gemeldet?
Es hat sich ein schwuler Amateurspieler wegen eines Coachings gemeldet. Einen professionellen Spieler gab es noch nicht. So funktioniert es aber auch nicht. Da braucht es noch den ein oder anderen Schritt. Zum Beispiel durch Flyer-Aktionen bei den Vereinen der ersten bis fünften Liga. Die wissen ja größtenteils noch gar nichts von uns. Da ist uns aber die Pandemie in die Quere gekommen. Ich rechne auch nicht mit einer schnellen Lösung des Problems. Das kann noch dauern. Ich mache diese Arbeit seit 2007 und habe mittlerweile gelernt, dass es nichts bringt, zu schnell unterwegs zu sein. Comingouts sind dann die Symptome einer guten Entwicklung.


Auf Twitter wurde immer wieder zu einem Gruppencomingout aufgerufen. Ist das das Hauptziel des Projektes?
Ich scheue mich immer ein bisschen, das so direkt zu sagen. Das hat so etwas Reißerisches. Letztlich muss es jeder einzelne für sich überlegen. Wenn sich eine Gruppe zusammen outen will, würde ich das unterstützen und fände es auch schön. Ich halte es aber für ein bisschen schwierig, das als Ziel auszugeben. Das Ziel ist eher, eine Atmosphäre zu schaffen, die ein Comingout möglich macht.


Wie würden Sie einem Spieler helfen, wenn er Sie kontaktiert?
Ich würde ihn erst einmal zu seiner Situation befragen. Wie geht es ihm? Wie kommt er mit der Situation klar? Wie reagiert sein Umfeld? Warum hat er sich gemeldet? Dann würde ich in die Tiefe gehen. Wie wollen wir damit umgehen? Was können wir für ihn machen? Wir haben zum Beispiel mal einen Schiedsrichter-Obmann in Brandenburg geplant geoutet. Das hatten wir vorher abgesprochen. So etwas könnte man dann auch besprechen. Und zum Abschluss geht es immer darum, dass derjenige gut alleine klarkommt.


„GayPlayersUNITE“ ist eine unabhängige Anlaufstelle. Ist das wichtig, weil man sich als betroffener Spieler vielleicht nicht beim DFB melden will?
Ja, das kann ich mir vorstellen. Dadurch, dass wir neutral sind, extern sind, kann man da wahrscheinlich lockerer sein. Dazu bin ich, glaube ich, ein umgänglicher weltoffener Typ und komme in Gesprächen immer ganz gut an. Ich gehe weder ängstlich noch übervorsichtig mit dem Thema um. Auch deswegen sind wir, glaube ich, eine gute Anlaufstelle.

In unserer Themenwoche erwartet euch noch: Wie sieht es mit Homosexualität im Frauenfußball aus? Und wie geht man in anderen Sportarten damit um?

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